Seit ich das erste Mal ein Aikido-Dojo betreten habe, wird mir regelmäßig vom "kraftlosen Aikido" gepredigt. Als Ingenieur muss ich über diese Formulierung immer ein wenig schmunzeln, denn

  • Aikido ist Bewegung
  • Ohne Kraft keine Bewegung (F = m*a)
  • Daraus folgt: Ohne Kraft kein Aikido

Wie ist diese sehr weit verbreitete Formulierung für mich zu interpretieren? Was die Autoren dieser Zeile mir wahrscheinlich sagen wollen ist, dass man im Aikido auf "unnötigen" Krafteinsatz verzichten soll. Das passt ja auch sehr gut zur Silbe "Ai", also der Harmonie. Wenn ich eine Technik mit meinem Partner übe, dann ist es mein erklärtes Ziel nur so viel Energie (=Kraft) einzusetzen, wie ich benötige um meinen Partner zu Fall zu bringen. Aber diese Mindestmenge an Energie muss halt auch vorhanden sein - sonst muss der Partner nicht fallen! Hubert Luhmann brachte das beim Christkindleslehrgang 2019 auf den Punkt: "Unsere Kampfkunst heiße aiKIdo. Ohne Ki geht es nicht. Wer denkt, dass er mit einer esoterischen Bewegung einen Partner zu Fall bringen kann, der versteckt sich vor der Realität".

Kraft und Bewegung sind in der Physik gerichtete Größen, d.h. sie haben zusätzlich zu ihrem Betrag ("wie viel Kraft ist da") auch noch eine Richtung ("wohin wirkt diese Kraft"). Im Aikido versucht man die eigene Energie mit der des Partners zu ergänzen, das bedeutete, dass man im Idealfall seine eigene Kraft in die Richtung wirken lässt, in die die Kraft des Uke eh schon wirkt. In diesem Moment addieren sich die Kräfte zu einer Gesamtkraft. Aber es bleibt bei der oben beschriebenen Aussage: Diese Gesamtkraft muss ausreichen um den Partner zu Fall zu bringen. Falls Uke wie ein Berserker und mit wenig Selbstkontrolle angreift, kann es in der Theorie sein, das Nage nur zur Seite gehen muss und Uke fällt. Aus praktischer Erfahrung kann ich berichten: Das funktioniert nur im Aikido-Dojo :-)

Ergo: Jeder Aikidoka sollte lernen, seine Kraft in dem Moment und in der Richtung einzusetzen wo sie benötigt wird. Das Ziel ist die Kontrolle des Uke inkl. dem Abschluss in einer Boden- bzw. Wurftechnik. Wenn Nage zu wenig Energie (=Ki) einsetzt, dann reicht es nicht aus um die Technik zu vollenden. Setzt Nage zu viel Kraft ein, wird die Technik unnötig hart. Den Grenzbereich auszuloten, wie viel Kraft tatsächlich benötigt wird ist die lebenslange Aufgabe des Aikidoka. Man kann sich beim täglichen Üben jetzt von oben oder von unten dieser Aufgabe annähern. Ich bin inzwischen immer mehr der Meinung, dass eine Annäherung von oben die bessere Wahl ist - also tendenziell zu viel Energie als zu wenig!

Bevor mir das jemand falsch auslegt: Ich rede von zwei miteinander trainierenden Aikidoka, die beide gut fallen können und so respektvoll und umsichtig miteinander umgehen, dass sie sich nicht verletzen! Dass ich mit einem Anfänger deutlich vorsichtiger umgehe, ist hoffentlich in jeder Kampfkunst selbstverständlich.

Als letzter Gedanke: Der Begriff Aikido ist schwer zu übersetzen. Frank Zimmermann machte im Sommer 2019 auf dem Landeslehrgang in Thüringen folgenden Vorschlag: "Aikido ist der Einsatz von Kraft zum richtigen Zeitpunkt". Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser finde ich diese Darstellung. Mir fehlt noch die Harmonie in der Übesetzung, vielleicht fällt mir irgendwann noch eine bessere ein.

Autor: Patrick David